„fahr dort vor der mühle links rein.“ änne will ihrem freund fast ins steuer greifen, als sie von der b210 abfahren. der kurze weg in den ort hinein hat sich in ihr gedächtnis eingebrannt, wie kaum ein anderer. wenn sie früher mit ihren eltern von wochenendausflügen heim kam, lag sie für gewöhnlich schlafend auf der rückbank des familienautos. um sie nicht zu wecken, hatte ännes vater die letzte kurve vor dem haus immer ganz langsam genommen. oft schlief änne gar nicht wirklich. sie hielt ihre augen geschlossen, seit sie vom autobahnkreuz abgefahren waren, weil sie es so gern hatte, wenn ihr vater sie sanft aus dem parkenden auto hob und in ihr kinderzimmer im obergeschoss des hauses trug. am sielk 8, das war ihre adresse. änne fand immer, dass das sehr besonders klang. in schönschrift schrieb sie ihre anschrift auf die rückseite all ihrer schulhefte. das s schrieb sie oft spiegelverkehrt, wenn sie sich zu sehr konzentrierte.
die straße ist noch beinahe dieselbe. die backsteinernen häuser reihen sich wie eh und je aneinander, umsäumt von beinahe unnatürlich grünen rasenflächen. zur straße hin schirmen winzige jägerzäune die grundstücke von der außenwelt ab. änne schaut sich in der straße um. in der sackgasse hatten sie und die nachbarskinder mit kreide himmel-und-hölle-felder auf den asphalt gemalt. gegenüber der sackgasse hatte sie jahrelang ballettstunden bei frau köhn besucht. kaum vorzustellen, dass das schon mehr als zwanzig jahre her ist. „hier habe ich gewohnt“, ruft änne ihrem freund zu ohne sich umzudrehen. ihr elternhaus hat sich auf den ersten blick kaum verändert, wie sollte es auch? die hausnummer am giebel ist eine andere und das mauerwerk scheint neu verfugt zu sein. jedenfalls wirkt das gebäude insgesamt heller und freundlicher auf sie, als sie es in erinnerung hatte. „ich würde dir auch den garten zeigen, aber das geht ja nicht.“ der garten, in dem änne ihre kindheit verbracht hat, befindet sich hinter dem haus und ist von der straße her nicht einsehbar. vorsichtig schleicht sie die einfahrt hinauf und probiert, einen blick um die ecke zu werfen. ein hoher zaun, der früher nicht dort stand, versperrt ihr die sicht.
„kann ich ihnen helfen?“, fragt sie plötzlich eine frauenstimme durch den offenen fensterschlitz. es klingt kein misstrauen mit, die frage scheint aufrichtig gemeint zu sein. änne kann durch das spiegelnde fenster niemanden erkennen. sie kichert mädchenhaft, wie sie es immer tut, wenn sie für das weitere gespräch zeit schinden will. „ich habe hier vor langer zeit mal gewohnt. eigentlich bin ich in diesem haus sogar aufgewachsen“, erzählt sie, noch immer ohne zu wissen, wem. „meine eltern haben das haus gebaut und ich wollte bloß einen blick in den garten werfen.“ im haus rumpelt etwas, dann ist es kurz still. schließlich schiebt sich an der hinterseite des hauses die tür zum garten auf. änne blickt hilfesuchend in richtung straße, kann ihren freund aber nicht entdecken. die hölzerne tür zum garten öffnet sich und ein kleiner hund rennt ihr entgegen. es ist ein aschgrauer terrier, der freudig an ännes knöcheln hochspringt. „ossi, komm her!“ die frau, die nicht über die schwelle zur einfahrt tritt, wedelt lächelnd ihren hund zurück. „entschuldigen sie. kommen sie gerne rein und schauen sich um! ich heiße jutta.“ die frau, die änne ihre hand zur begrüßung hinhält, ist ihr sofort sympathisch. jutta ist schlank und groß und trägt ihr langes, beinahe weißblondes haar offen. sie hat freundliche, kleine fältchen um die augen und änne fällt auf, das sie leicht nach blumen duftet, als sie einen schritt auf sie zu geht, um ihren gruß zu erwidern. jutta legt ihr vertrauensvoll eine hand auf die schulter, um sie in den garten zu führen. „hier hat sich sicher einiges verändert“, sagt sie und zögert, bevor sie den satz beendet, „seit ihre eltern das haus verkauft haben.“ juttas familie hat einen fischteich ausgehoben an der stelle, an der ännes vater ihn immer geplant, aber nie angelegt hat. das blumenbeet im hinteren teil des gartens steht gerade in voller blüte. änne erkennt margeriten und ranunkeln. im garten der rückseitigen nachbarn steht noch immer der apfelbaum, dessen früchte änne früher immer pflücken durfte. der eindruck überwältigt sie. der ort, an dem sie aufgewachsen war, sieht so viel gepflegter und einladender aus als früher. sie schämt sich beinahe für den vergleichsweise verwilderten garten, an den sie so viele schöne erinnerungen hat. „möchten sie auf einen tee hereinkommen? meine tochter feiert gerade ihre konfirmation und die frauen aus der nachbarschaft sind zu besuch. die eine oder andere dürften sie da ja bestimmt auch noch kennen.“ änne nickt und betritt durch die gartentür das wohnzimmer.
am esstisch sitzen die um zwanzig jahre gealterten frauen aus ihrer kindheit. die dicke hummelsiep steht sofort auf und begrüßt sie überschwänglich mit einer umarmung. „ännchen, liebes! schau dich an, wie groß du geworden bist!“ sie konnte frau hummelsiep schon als kind nicht ausstehen und ist sich sicher, dass das auch auf gegenseitigkeit beruhte. die dicke hummelsiep beherbergte in ihrem haus nebenan immer ein halbes dutzend katzen und einen jungen, der ein jahr jünger war als änne. der vater des kindes hatte zwar die chuzpe, seine hochschwangere frau sitzen zu lassen, aber ebenfalls den anstand, ihr ein finanziell sorgenfreies leben in einem beachtlichen häuschen am sielk zu gewährleisen. ihr sohn michael, den sie nur michel oder michelchen nannte, war daher seit jeher der mittelpunkt ihres ansonsten ereignislosen lebens. weil änne noch immer den geruch von katzenfutter in frau hummelsieps kleidung wahrnehmen kann, vermutet sie, dass sich daran wenig geändert hat.
„ännchen, setz dich doch zu uns“, flötet sie übertrieben freundlich und weist änne mit ihrer hand einen freien platz zu. am tisch sitzt außerdem frau oltmann, zu der änne früher ein sehr zärtliches verhältnis hatte, weil sie und ihr mann sich sehnlichst kinder wünschten, aber kinderlos blieben, bis änne und ihre eltern wegzogen. zu ihr ging änne als mädchen, wenn sie unvorhergesehen früher aus der schule kam und aß gezuckerte beeren. frau oltmann reicht änne förmlich die hand, was ihr unangemessen kühl erscheint. frau bendixen, die sich gerade mit einer serviette kuchenkrümel vom mund wischt, bewohnt mit ihrer familie das größte und stattlichste haus der straße. es steht an der ecke zum hollekuhl in sichtweite der mühle. ihren mann, der bauunternehmer war, kann änne sich nicht mehr vor augen rufen. herr und frau bendixen haben zwei töchter, die im ort weithin als gute partie galten – eben wegen des stattlichen reichtums der eltern. die fünfte frau am tisch hat rotbräunlich gefärbtes haar, ist aber eindeutig schon in einem alter, in dem grau die einzige von der natur vorgesehene alternative ist. änne erkennt sie wieder, kann sich aber beim besten willen nicht an ihren namen erinnern.
während sie die windungen ihres gehirns angestrengt nach dem namen dieser frau durchsucht, kommt ein blondes, ungefähr dreizehnjähriges mädchen die treppe herunter geschlendert. änne erschrickt, weil sie sich einen moment lang selbst in dem teenager wiedererkennt. vermutlich kommt das mädchen gerade aus dem kinderzimmer, das einmal änne gehört hat und fragt sich nun, wer die fremde frau ist, die in dem wohnzimmer ihrer eltern sitzt. ohne rücksicht auf den moment ergreift die dicke hummelsiep das wort: „liebes, wie geht es dir? mein michel hat ja schon längst sein studium in oldenburg abgeschlossen. wohnst du immer noch in hamburg?“ allein wegen ihres inflationären gebrauch des diminutivs und worten wie „liebes“ widerstrebt es änne innerlich, zu antworten. „schon länger nicht mehr. ich habe mich, nachdem ich zwischendurch in brüssel und paris gelebt habe, inzwischen in leipzig niedergelassen. ich wohne dort mit meinem mann.“ änne weiß auch nicht, warum sie sich selbst einen trauschein andichtet. irgendwie vermutet sie, dass man sie in dieser runde sonst weiterhin wie das kleine mädchen von damals behandeln würde. sie spürt eine gewisse feindseligkeit, die sie nicht einordnen kann. oder bildet sie sich das nur ein? sind das wirklich einfach nur fünf frauen bei tee und kuchen? frau oltmann hat sowohl arme als auch beine verschränkt, was etwas seltsam aussieht. die namenslose rotbraune hingegen scheint aufmerksam und aufrichtig interessiert zuzuhören. „paris! oh, ist es schön dort?“, fragt sie nun. „mein mann und ich unternehmen nächsten monat eine reise dorthin. wir wollen auch in die oper gehen.“ änne lächelt freundlich. die opern in paris seien weltbekannt, antwortet sie, ohne dass sie das wirklich wüsste. aus schortenser sicht ist „welt“ allerdings auch ein sehr dehnbarer begriff, findet sie. jutta gießt ihr tee in eine tasse, die eindeutig ihrem sonntagsgeschirr entstammt. das knistern des kandis füllt die eintretende stille. als jutta wieder auf dem platz gegenüber änne platz nimmt, hat diese kurz das gefühl ihre gastgeberin würde unterm tisch mit ihr füßeln. es ist allerdings bloß ossi, der terrier, der es sich auf ännes füßen bequem gemacht hat. änne errötet leicht und nimmt einen großen schluck aus der winzigen porzellantasse. „schön hast du es hier, jutta“, sagt sie, um nicht nichts zu sagen. „als ich hier noch wohnte, lagen statt der fliesen noch teppich. als kind fand ich das immer gemütlich, obwohl rückblickend betrachtet…“ sie zögert. schon wieder erwischt änne sich dabei, den ort ihrer kindheit schlecht zu reden. „der teppich war grau und etwas muffig. ich mochte ihn irgendwie trotzdem“, rettet sie sich schließlich. die nachbarinnen erinnern sich und erzählen belangloses von ihren bodenbelägen bis wieder frau hummelsiep etwas erzählen möchte. „michel, also mein michelchen, hat unserer änne mal einen brief geschrieben“, verkündet sie ihren nachbarinnen in der annahme, dass änne sich noch daran erinnert. „es war ein liebesbrief. änne hat ihm nie geantwortet.“ in dem letzten satz schwingt eindeutig ein vorwurf mit. wieso packt sie diese geschichte denn nun aus?, schießt es änne durch den kopf. nicht nur ihr ist hummelsieps offensichtlicher faux-pas schrecklich peinlich. „sie war sicherlich ein sehr schüchternes mädchen“, lenkt jutta ein und lächelt änne aufmunternd zu. so eine dicke hexe, denkt sich änne, während sie weiterhin schweigend lächelt. hält sie ihr ernsthaft immer noch vor, dass sie als achtjährige ihrem michelchen das herzchen gebrochen hat? juttas tochter hat sich inzwischen in hörweite auf das sofa gelümmelt und lauscht sichtlich amüsiert dem gespräch. „wisst ihr, mein mann wartet draußen im auto. ich sollte wirklich gehen“, sagt änne schließlich und befreit ihre füße aus ossis warmen fell. „es war wirklich schön, euch alle mal wieder zu sehen. hier am sielk ist es immer noch genauso gemütlich wie früher.“ sie steht auf, bedankt sich an der tür bei jutta für ihre gastfreundschaft und schaut sich ein letztes mal um in dem haus, das auch von innen so viel heller und wärmer wirkt, als sie es kannte. dann verlässt sie ihre kindheit durch die vordertür.
die straße ist noch beinahe dieselbe. die backsteinernen häuser reihen sich wie eh und je aneinander, umsäumt von beinahe unnatürlich grünen rasenflächen. zur straße hin schirmen winzige jägerzäune die grundstücke von der außenwelt ab. änne schaut sich in der straße um. in der sackgasse hatten sie und die nachbarskinder mit kreide himmel-und-hölle-felder auf den asphalt gemalt. gegenüber der sackgasse hatte sie jahrelang ballettstunden bei frau köhn besucht. kaum vorzustellen, dass das schon mehr als zwanzig jahre her ist. „hier habe ich gewohnt“, ruft änne ihrem freund zu ohne sich umzudrehen. ihr elternhaus hat sich auf den ersten blick kaum verändert, wie sollte es auch? die hausnummer am giebel ist eine andere und das mauerwerk scheint neu verfugt zu sein. jedenfalls wirkt das gebäude insgesamt heller und freundlicher auf sie, als sie es in erinnerung hatte. „ich würde dir auch den garten zeigen, aber das geht ja nicht.“ der garten, in dem änne ihre kindheit verbracht hat, befindet sich hinter dem haus und ist von der straße her nicht einsehbar. vorsichtig schleicht sie die einfahrt hinauf und probiert, einen blick um die ecke zu werfen. ein hoher zaun, der früher nicht dort stand, versperrt ihr die sicht.
„kann ich ihnen helfen?“, fragt sie plötzlich eine frauenstimme durch den offenen fensterschlitz. es klingt kein misstrauen mit, die frage scheint aufrichtig gemeint zu sein. änne kann durch das spiegelnde fenster niemanden erkennen. sie kichert mädchenhaft, wie sie es immer tut, wenn sie für das weitere gespräch zeit schinden will. „ich habe hier vor langer zeit mal gewohnt. eigentlich bin ich in diesem haus sogar aufgewachsen“, erzählt sie, noch immer ohne zu wissen, wem. „meine eltern haben das haus gebaut und ich wollte bloß einen blick in den garten werfen.“ im haus rumpelt etwas, dann ist es kurz still. schließlich schiebt sich an der hinterseite des hauses die tür zum garten auf. änne blickt hilfesuchend in richtung straße, kann ihren freund aber nicht entdecken. die hölzerne tür zum garten öffnet sich und ein kleiner hund rennt ihr entgegen. es ist ein aschgrauer terrier, der freudig an ännes knöcheln hochspringt. „ossi, komm her!“ die frau, die nicht über die schwelle zur einfahrt tritt, wedelt lächelnd ihren hund zurück. „entschuldigen sie. kommen sie gerne rein und schauen sich um! ich heiße jutta.“ die frau, die änne ihre hand zur begrüßung hinhält, ist ihr sofort sympathisch. jutta ist schlank und groß und trägt ihr langes, beinahe weißblondes haar offen. sie hat freundliche, kleine fältchen um die augen und änne fällt auf, das sie leicht nach blumen duftet, als sie einen schritt auf sie zu geht, um ihren gruß zu erwidern. jutta legt ihr vertrauensvoll eine hand auf die schulter, um sie in den garten zu führen. „hier hat sich sicher einiges verändert“, sagt sie und zögert, bevor sie den satz beendet, „seit ihre eltern das haus verkauft haben.“ juttas familie hat einen fischteich ausgehoben an der stelle, an der ännes vater ihn immer geplant, aber nie angelegt hat. das blumenbeet im hinteren teil des gartens steht gerade in voller blüte. änne erkennt margeriten und ranunkeln. im garten der rückseitigen nachbarn steht noch immer der apfelbaum, dessen früchte änne früher immer pflücken durfte. der eindruck überwältigt sie. der ort, an dem sie aufgewachsen war, sieht so viel gepflegter und einladender aus als früher. sie schämt sich beinahe für den vergleichsweise verwilderten garten, an den sie so viele schöne erinnerungen hat. „möchten sie auf einen tee hereinkommen? meine tochter feiert gerade ihre konfirmation und die frauen aus der nachbarschaft sind zu besuch. die eine oder andere dürften sie da ja bestimmt auch noch kennen.“ änne nickt und betritt durch die gartentür das wohnzimmer.
am esstisch sitzen die um zwanzig jahre gealterten frauen aus ihrer kindheit. die dicke hummelsiep steht sofort auf und begrüßt sie überschwänglich mit einer umarmung. „ännchen, liebes! schau dich an, wie groß du geworden bist!“ sie konnte frau hummelsiep schon als kind nicht ausstehen und ist sich sicher, dass das auch auf gegenseitigkeit beruhte. die dicke hummelsiep beherbergte in ihrem haus nebenan immer ein halbes dutzend katzen und einen jungen, der ein jahr jünger war als änne. der vater des kindes hatte zwar die chuzpe, seine hochschwangere frau sitzen zu lassen, aber ebenfalls den anstand, ihr ein finanziell sorgenfreies leben in einem beachtlichen häuschen am sielk zu gewährleisen. ihr sohn michael, den sie nur michel oder michelchen nannte, war daher seit jeher der mittelpunkt ihres ansonsten ereignislosen lebens. weil änne noch immer den geruch von katzenfutter in frau hummelsieps kleidung wahrnehmen kann, vermutet sie, dass sich daran wenig geändert hat.
„ännchen, setz dich doch zu uns“, flötet sie übertrieben freundlich und weist änne mit ihrer hand einen freien platz zu. am tisch sitzt außerdem frau oltmann, zu der änne früher ein sehr zärtliches verhältnis hatte, weil sie und ihr mann sich sehnlichst kinder wünschten, aber kinderlos blieben, bis änne und ihre eltern wegzogen. zu ihr ging änne als mädchen, wenn sie unvorhergesehen früher aus der schule kam und aß gezuckerte beeren. frau oltmann reicht änne förmlich die hand, was ihr unangemessen kühl erscheint. frau bendixen, die sich gerade mit einer serviette kuchenkrümel vom mund wischt, bewohnt mit ihrer familie das größte und stattlichste haus der straße. es steht an der ecke zum hollekuhl in sichtweite der mühle. ihren mann, der bauunternehmer war, kann änne sich nicht mehr vor augen rufen. herr und frau bendixen haben zwei töchter, die im ort weithin als gute partie galten – eben wegen des stattlichen reichtums der eltern. die fünfte frau am tisch hat rotbräunlich gefärbtes haar, ist aber eindeutig schon in einem alter, in dem grau die einzige von der natur vorgesehene alternative ist. änne erkennt sie wieder, kann sich aber beim besten willen nicht an ihren namen erinnern.
während sie die windungen ihres gehirns angestrengt nach dem namen dieser frau durchsucht, kommt ein blondes, ungefähr dreizehnjähriges mädchen die treppe herunter geschlendert. änne erschrickt, weil sie sich einen moment lang selbst in dem teenager wiedererkennt. vermutlich kommt das mädchen gerade aus dem kinderzimmer, das einmal änne gehört hat und fragt sich nun, wer die fremde frau ist, die in dem wohnzimmer ihrer eltern sitzt. ohne rücksicht auf den moment ergreift die dicke hummelsiep das wort: „liebes, wie geht es dir? mein michel hat ja schon längst sein studium in oldenburg abgeschlossen. wohnst du immer noch in hamburg?“ allein wegen ihres inflationären gebrauch des diminutivs und worten wie „liebes“ widerstrebt es änne innerlich, zu antworten. „schon länger nicht mehr. ich habe mich, nachdem ich zwischendurch in brüssel und paris gelebt habe, inzwischen in leipzig niedergelassen. ich wohne dort mit meinem mann.“ änne weiß auch nicht, warum sie sich selbst einen trauschein andichtet. irgendwie vermutet sie, dass man sie in dieser runde sonst weiterhin wie das kleine mädchen von damals behandeln würde. sie spürt eine gewisse feindseligkeit, die sie nicht einordnen kann. oder bildet sie sich das nur ein? sind das wirklich einfach nur fünf frauen bei tee und kuchen? frau oltmann hat sowohl arme als auch beine verschränkt, was etwas seltsam aussieht. die namenslose rotbraune hingegen scheint aufmerksam und aufrichtig interessiert zuzuhören. „paris! oh, ist es schön dort?“, fragt sie nun. „mein mann und ich unternehmen nächsten monat eine reise dorthin. wir wollen auch in die oper gehen.“ änne lächelt freundlich. die opern in paris seien weltbekannt, antwortet sie, ohne dass sie das wirklich wüsste. aus schortenser sicht ist „welt“ allerdings auch ein sehr dehnbarer begriff, findet sie. jutta gießt ihr tee in eine tasse, die eindeutig ihrem sonntagsgeschirr entstammt. das knistern des kandis füllt die eintretende stille. als jutta wieder auf dem platz gegenüber änne platz nimmt, hat diese kurz das gefühl ihre gastgeberin würde unterm tisch mit ihr füßeln. es ist allerdings bloß ossi, der terrier, der es sich auf ännes füßen bequem gemacht hat. änne errötet leicht und nimmt einen großen schluck aus der winzigen porzellantasse. „schön hast du es hier, jutta“, sagt sie, um nicht nichts zu sagen. „als ich hier noch wohnte, lagen statt der fliesen noch teppich. als kind fand ich das immer gemütlich, obwohl rückblickend betrachtet…“ sie zögert. schon wieder erwischt änne sich dabei, den ort ihrer kindheit schlecht zu reden. „der teppich war grau und etwas muffig. ich mochte ihn irgendwie trotzdem“, rettet sie sich schließlich. die nachbarinnen erinnern sich und erzählen belangloses von ihren bodenbelägen bis wieder frau hummelsiep etwas erzählen möchte. „michel, also mein michelchen, hat unserer änne mal einen brief geschrieben“, verkündet sie ihren nachbarinnen in der annahme, dass änne sich noch daran erinnert. „es war ein liebesbrief. änne hat ihm nie geantwortet.“ in dem letzten satz schwingt eindeutig ein vorwurf mit. wieso packt sie diese geschichte denn nun aus?, schießt es änne durch den kopf. nicht nur ihr ist hummelsieps offensichtlicher faux-pas schrecklich peinlich. „sie war sicherlich ein sehr schüchternes mädchen“, lenkt jutta ein und lächelt änne aufmunternd zu. so eine dicke hexe, denkt sich änne, während sie weiterhin schweigend lächelt. hält sie ihr ernsthaft immer noch vor, dass sie als achtjährige ihrem michelchen das herzchen gebrochen hat? juttas tochter hat sich inzwischen in hörweite auf das sofa gelümmelt und lauscht sichtlich amüsiert dem gespräch. „wisst ihr, mein mann wartet draußen im auto. ich sollte wirklich gehen“, sagt änne schließlich und befreit ihre füße aus ossis warmen fell. „es war wirklich schön, euch alle mal wieder zu sehen. hier am sielk ist es immer noch genauso gemütlich wie früher.“ sie steht auf, bedankt sich an der tür bei jutta für ihre gastfreundschaft und schaut sich ein letztes mal um in dem haus, das auch von innen so viel heller und wärmer wirkt, als sie es kannte. dann verlässt sie ihre kindheit durch die vordertür.