es war einmal vor langer zeit ein bauerndorf, das auf einem kleinen hügel liegt und von tiefgrünen marschwiesen eingerahmt ist. das dorf heißt scrotinghe und es ist so versteckt und schwer zu erreichen, dass sich selten ein fremder hierher verirrt, wenn er denn nicht über das wasser kommt. scrotinghe ist vor allem von weiten feldern, düsteren mooren und glitzernden bächen umgeben, aber auch von dichten wäldern, in denen verwunschene tiere wohnen. die scrotingher bauern, die friesen sind, finden daran nichts ungewöhnliches, denn obwohl eine große steinerne kirche in der dorfmitte steht, glauben sie insgeheim noch an ihre naturgötter. dass diese naturgötter dann als tiere in der friesischen landschaft leben, erscheint ihnen daher nur logisch.
eines schönen sommertages kommt ein mädchen von südosten über den staubigen weg entlang des oestringer feldes gelaufen und betritt das bauerndorf scrotinghe am späten nachmittag, als die sonne schon tief steht.
sie heißt marie und ist recht schön, wenn auch auf eine eigentümliche weise. ihr weißblondes haar ist auf höhe der ohrläppchen gerade abgeschnitten, sodass man ihren hals und ihren nacken vollständig sehen kann. auch über der stirn fällt das haar nur bis zu einer geraden linie auf höhe der augenbrauen. statt eines langen kleides trägt sie grell blaue männerhosen und einen dünnes, langärmeliges leibchen ohne knöpfe, das ihr viel zu weit ist. über ihrer linken schulter hängt ein beutel, der scheinbar aus flachs oder jute gewebt ist. ihre lippen sind mit roter farbe bemalt und ihre haut ist hell wie japanisches porzellan.
auf die bewohner des dorfes wirkt marie höchst grotesk und so ist es nicht verwunderlich, dass, noch bevor sie den ersten hof betreten hat, schon wilde geschichten unter den frauen des dorfes die runde machen.
das mädchen sei eine böse moorhexe aus ostfriesland, erzählt die dicke bäuerin diertje-möh mit verschwörerisch irrem blick. ihr mann, der bauer lümme oncken, war im winter zuvor überraschend verstorben und seitdem darf die witwe zwar die größten ländereien, aber auch den größten knall in ganz scrotinghe ihr eigen nennen. wenn sie mit dem rücken zu ihr stünden, so diertje-möh, könne marie jede von ihnen in eine abscheuliche kröte verwandeln.
merta, die sich als magd auf dem hof des bauern poppe oetken verdingt, meint gehört zu haben, dass das seltsame mädchen eine wohlhabene prinzessin aus dem baltikum sei. „an ihren ohren hängt gold und bernstein, selbst um ihre hüfte trägt sie einen riemen mit einer schnalle aus silber!“ das ist wahrlich ein opulenter luxus, da sind sich die bauersfrauen einig. stine rinsthusen hat erst vor kurzem über den ältesten rinsthusen-sohn nach scrotinghe eingeheiratet hat und entstammt eigentlich der durch fischfang zu großem reichtum gelangten familie von seediek. bei den anderen geestbewohnerinnen gilt sie deshalb als expertin für alle launen und offenbarungen des meeres. stines vermutung, dass das fremde mädchen ein verwunschenes seewiefken ist, findet daher durchaus einige anhängerinnen. „schaut doch, wie traurig sie aussieht. als man es verwandelt hat, ist aus ihrem fischschwanz eine klobige männerhose geworden – schließlich geht auch beim zaubern mal was schief! und nun muss das arme ding durch die gegend ziehen wie ein armer landstreicher.“ die anderen frauen schauen aus der ferne herüber zu marie, die inzwischen auf dem hof von poppe oetken steht. etwas grünlich schimmert maries haut tatsächlich, wenn sie genau hinschauen, vor allem ihre augenlider. an der geschichte von dem verzauberten seewiefken könnte etwas dran sein. außerdem hat edda eilks heute früh ein paar eerdmanntjes über ihr rübenfeld laufen sehen und die haben ja bekanntlich ein gespür für verzauberte seewiefkes. und sowieso möchte keine der frauen eine böse hexe hier im dorf haben, die sie alle in hässliche kröten verwandeln würde, sobald sie ihr den rücken zukehren.
während diertje-möh, stine und edda weiter über das seltsame mädchen rätseln, geht merta zu dem bauernhaus ihres herren, vor dem nun auch marie steht. „hey, meinst du, ich könnt’ne nacht bei euch pennen?“, ruft marie der schüchternen magd entgegen, noch bevor diese auf dem hof angekommen ist. „ich verstehe nicht ganz“, antwortet merta leise. es musste sich doch um eine baltische prinzessin handeln, sie spricht eindeutig eine exotische sprache. merta senkt den kopf und wird plötzlich rot. sie hat ja keine ahnung, wie man sich prinzessinnen gegenüber verhalten soll. zudem hat sie keinen knicks gemacht und das hätte sie laut etikette bestimmt tun müssen. sie knickst nun schnell vor marie nieder, mit besonders tief geneigtem kopf, in der hoffnung, den faux-pas ihrer unkenntnis damit ungeschehen machen zu können. „gnädige höhe, eure frauheit“, stammelt sie hilflos, „der herr ist zurzeit nicht zugegen. er ist untröstlich, sie nicht persönlich empfangen zu können.“ marie bricht in prustendes lachen aus. „hey, hey, hey, liebchen. mach dich mal locker“, probiert sie die etwa gleichaltrige merta zu beruhigen und legt ihr vertrauensvoll eine hand auf die schulter. „ist doch halb so wild. ich latsche einfach noch’ne runde um den pudding. ich habe halt bloß echt beschissenen empfang und mein akku ist auch bald leer.“
marie holt eine sonderbare kleine maschine aus ihrer hosentasche, die aus perlmutt oder elfenbein zu bestehen scheint. auf einer seite ist kunstvoll ein halber apfel in die oberfläche geschnitzt. an der apfelmaschine knüpft sie ein weiteres gerät fest, das sie aus ihrer tasche fischt. merta, die inzwischen wieder aufrecht steht, schaut erschrocken auf die fremdartigen gegenstände. das gerät an dem bindfaden setzt sich marie schließlich auf die ohren wie eine kopfpresse. das muss ihre krone sein, denkt sich merta, die sieht aber wirklich sehr baltisch aus. dann berührt die vermeintliche prinzessin das kleine maschinchen und aus der kopfpresse kommen geräusche. ganz wundersame, furchterregende geräusche.
„die stimmen aus helheim!“, ruft merta und stößt einen kleinen schrei aus, den auch die anderen dorfbewohner hören. nun verliert auch marie zunehmend die fassung. „ähm. das ist nicht helheim. das ist ‚remmidemmi’ von deichkind“, sagt sie verunsichert und hält merta ihre kopfhörer hin. die tonkulisse, die merta nicht einordnen kann, wird immer lauter. wirre stimmen und bizarre geräusche, die scheinbar aus dem nichts kommen. „du stehst wohl einfach nicht so auf electro?“, probiert marie die offensichtlich verängstigte merta zu beruhigen. ohne zu antworten rennt merta zum eingang des bauernhauses und verriegelt die massive tür von innen. das ist gar keine prinzessin, sondern eine böse hexe, da ist sich merta nun sicher. und als kurze zeit später auch die anderen frauen des dorfes die neuigkeit erfahren haben, jagen sie marie mit steinen und erhobenen mistgabeln aus dem dorf. während diertje-möh an der spitze der gruppe patroulliert und mit lauten „hexe“-rufen das gesamte dorf zu mobilisieren probiert, kauern sich merta, stine und edda ängstlich im windschatten der dicken bauerswitwe. später erzählt diertje-möh den nachbarinnen, die nicht dabei gewesen waren, dass marie, als man sie bis zum horizont getrieben habe, sogar auf einen besen gestiegen und in richtung ostfriesland davongeflogen sei. all das hatten die scrotingher frauen geregelt, noch bevor ihre männer vom markt in givers zurück waren.
noch vor einbruch der dunkelheit gelangt marie in einen dichten wald, in dessen mitte sie einen seltsam schimmernden see findet, an dem sie sich ausruht. während die baumkronen in dem leuchtenden orange der untergehenden sonne baden, ist es hier im unterholz schummrig violett. auf dem waldboden wachsen bunte pilze, marie pflückt sich einen rosafarbenen, von dem sie nicht weiß, ob er giftig ist oder nicht. sie legt ihre tasche auf den boden, der trotz der sommerhitze feucht und modrig ist, und lockert die schnürsenkel ihrer chucks. ihre füße sind geschwollen und an den fersen hat sie blasen. sie beugt sich zu dem ufer des schimmernden sees hinunter und trinkt von dem klaren wasser. es schmeckt nicht schlecht, ein bisschen nach moos und nadelholz, etwas süßlich vielleicht sogar. marie muss an die tannenwaldlimonade denken, die sie in berlyn-golgota so gerne getrunken hat. ein seltsamer ort, dieses scrothinge.
als marie gerade am ufer des waldsees sitzt, fällt ihr plötzlich ein birkhuhn auf, das es sich neben ihr bequem gemacht hat. „hi! ich bin marie“, sagt sie und nickt ihm freundlich zu. das birkhuhn nickt auch. „marie, du siehst sehr müde aus. folge den hellen kieselsteinen, sobald der mond scheint. ich habe sie dir auf den waldboden gelegt. sie führen dich zu einer lichtung, auf der ein riesiges kloster aus stein steht. klopfe dort dreimal an der tür und bitte um obdach.“ während marie probiert, sich auf die worte des birkhuhns zu konzentrieren, merkt sie, wie erschöpft sie tatsächlich ist. „danke, birkhuhn. das ist echt ein spitzen tipp und wirklich irre nett von dir.“ sie wollte das birkhuhn noch fragen, ob es in dem kloster wohl auch wlan gäbe, aber da ist es schon weggeflogen und eigentlich ist es ja auch gar nicht so wichtig.
als es dunkel ist, tut marie, wie der vogel ihr sagte und steht kurze zeit später vor einem gewaltigen gebäude aus großen granitsteinen. sie klopft mehrmals an die massive tür aus metall, in deren türbogen eine ebenfalls metallene tafel in das gemäuer eingelassen ist: onser lieven frouwe op den velde. es dauert einige momente, bis marie die tür geöffnet wird. schließlich steht sie einer älteren frau im knöchellangen nachthemd gegenüber, die einen kerzenhalter mit griff in der linken hand hält. „oh, ich wollte sie nicht wecken!“, entschuldigt sich marie enthusiastisch. sie ist aufrichtig überrascht, die frau im nachthemd anzutreffen, denn nicht nur findet sie nachthemden selbst für alte leute unglaublich altmodisch, sie hat zudem auch nicht ahnen können, dass schon um zehn uhr alle zu bett gegangen sind, denn später könnte es, dem sonnenuntergang nach zu urteilen, kaum sein. „es ist nur so: ich suche einen platz zum schlafen und man hat mir von diesem kloster erzählt.“ die frau im nachthemd ist beate juchter, priorin des klosters, und ihr sind schon die geschichten aus dem dorf zu ohren gekommen. in ihr grundsätzliches misstrauen gegenüber den wenig sittlichen friesen mischt sich nun noch ihre müdigkeit. „hören sie mal, es ist mitten in der nacht. und außerdem ist das hier ein kloster und keine herberge. wir können ihnen kein bett anbieten, ihre anwesenheit würde die ruhe und ordnung unseres ordens nur durcheinanderbringen.“ marie merkt, dass das gespräch eine ähnlich abstruse wendung nehmen könnte wie das vorhin mit der magd merta. sie probiert leiser zu sprechen und ihre worte bedachter zu wählen. „mein name ist marie, meine freunde nennen mich aber mariechen. ich komme von weit her und kenne mich hier nicht gut aus. allerdings bin ich im achten monat schwanger und hätte gern ein bett zum schlafen.“ die nonne schaut an dem mädchen hinunter. unter dem langärmeligen, völlig unförmigen leibchen könnte sich tatsächlich der bauch einer schwangeren frau verstecken. zudem war dieses seltsame kleidungsstück ihrer eigenen ordenstracht nicht so unähnlich: schnüre und knöpfe, wie sie die heidnischen bäuerinnen trugen, sah sie immerhin keine. es glich mehr einem gewand, nur eben sehr kurz. vielleicht taten die frauen aus dem dorf ihr unrecht. was wussten diese einfältigen weiber schon von moral und tugend? während beate juchter überlegt, ob sie dem mädchen obdach bieten solle, erscheint neben ihr schwester hille, eine junge nonne in komplettem ordensgewand in der tür. „mutter oberin, ist etwas passiert, dass sie so spät noch wach sind? ich habe mir sorgen gemacht.“ die priorin dreht sich zu schwester hille um. „nein, schwester hille, seien sie unbesorgt. begrüßen sie lieber mit mir schwester marieken, die gerade darum gebeten hat, unserem konvent beitreten zu dürfen. begleiten sie sie in ihre zelle.“
das schwarze ordensgewand steht marie ausgezeichnet. oversized ist eh total ihr stil, sagt sie sich. außerdem ist der hochschwangeren marie der silberne knopf ihrer jeans abgesprungen, als sie im wald unterwegs war, sodass sie die unbequeme und viel zu enge hose bereitwillig gegen das luftige gewand der nonnen eintauscht.
kost und logie sind umsonst und das bisschen beten wird sie auf einer arschbacke absitzen, wie man so schön sagt. außerdem, jede mitgliedschaft lässt sich aufkündigen. marie bekommt eine ärmlich eingerichtete zelle im turm des klosters. aus ihrem fenster kann sie nicht nur den angrenzenden wald, sondern auch das ganze dorf scrotinghe überblicken. am nächsten morgen meint sie sogar in der ferne diertje-möh zu erkennen, während die in der sommerhitze ihr land bewässert.
die tage im kloster vergehen überraschend schnell. marie hilft tagsüber den anderen schwestern im garten des klosters, bewässert das gemüse, beschneidet obstbäume oder pflückt sich hin und wieder wilde beeren außerhalb der klostermauern, wenn die mahlzeit im refektorium mal wieder etwas zu karg ausgefallen ist. nur, dass sie weit und breit keine steckdose findet, beunruhigt marie, denn sie würde zu gern wissen, ob ihr freund jos endlich ein zugticket nach scrothinge gelöst hat.
nach einer woche, die marie nun in dem kloster lebt, bittet die priorin sie zum gespräch. „schwester marieken, es ist bisher unser kleines geheimnis gewesen, aber nun möchte ich sie doch eines fragen. sollen wir nicht langsam nach ihrem ehemann schicken, damit er das kind nach ihrer niederkunft holt?“ marie ist entsetzt. wieso sollte irgendwer kommen und ihr kind holen? „ja, naja. also darüber wollte ich eh noch mit ihnen reden, schwester. jos und ich, wir kennen uns noch nicht so wahnsinnig lang. genaugenommen war es eher so ein one-night-stand unter freunden. wissen sie, wir waren feiern, haben wohl einen gin tonic zuviel getrunken, und naja, knick-knack, sie wissen schon. ich habe ihm eine sms geschrieben, aber nun ist mein akku leer und ich weiß gar nicht, ob jos überhaupt weiß, dass er vater wird. gibt es hier irgendwo vielleicht eine steckdose?“
die priorin wird bleich im gesicht und weiß nicht, ob sie glauben soll, was das mädchen ihr da erzählt. dass sie ihre jungfräulichkeit verloren hat, ist schlimm genug. allerdings ist sie davon ausgegangen, dass dem mädchen in der ehe gewalt angetan wurde und es sich deshalb in ein kloster flüchten wollte. als moderne und barmherzige frau hatte beate juchter es damals als ihre pflicht empfunden, dem jungen, misshandelten ding ein obdach zu bieten. aber ein bastard in den heiligen gemäuern dieses klosters, das ist eindeutig zu viel. dazu noch alkohol und zügellose feste, sie hat wohl die leibhaftige hure babylon in ihr kloster eingeladen.
sie verweist marie noch am selben tag des klosters und erlaubt nicht mal, dass schwester hille und schwester dieka die junge frau zum hauptportal begleiten. „möge diese gottlose sünderin doch im wald von den tieren gefressen werden!“, ruft sie marie hinterher, als diese das kloster gerade über den kreuzgang verlassen wollte. und während marie wieder draußen auf dem felde steht, bekreuzigt sich drinnen die priorin beater juchter und hofft, dass keine der schwestern ihren wutausbruch mitbekommen hatte.
es ist noch immer warm in den wäldern bei scrotinghe und marie beschließt, von nun an hier zu wohnen. in der woche im kloster hat sie gelernt, welche kräuter und beeren giftig und welche essbar sind, dass man aus den früchten des sanddorns einen wunderbaren saft pressen kann und wie man sich eine bequeme schlafstätte aus moos baut. außerdem leuchtet seit kurzem nachts ein heller stern am himmel, der die ganze umgebung erhellt. marie hat das gefühl, dass er senkrecht über ihrem kopf steht und freut sich über das geheimnisvolle glitzern, das nun wie staub über dem ganzen wald liegt. sie baut sich eine kleine hütte an dem waldsee, an dem sie vor kurzem das birkhuhn getroffen hat, denn dort glänzt und glitzert es am schönsten. außerdem kann sie tagsüber von dem wasser trinken oder darin baden.
am ersten abend im wald kommt ein wolf zu maries hütte und setzt sich neben ihr bett aus moos. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt er und das mädchen wacht auf. marie streichelt den wolf, der zahm und sehr liebenswürdig ist. „weißt du, wolf, mir geht es eigentlich ganz gut hier. allerdings frage ich mich, was aus meinem freund jos geworden ist. er sollte längst hier sein. kannst du nach ihm suchen und ihn herbringen?“ der wolf erzählt marie, dass er der letzte wolf weit und breit ist und die menschen hier in der umgebung als „hunnenhangers“ bekannt seien. deshalb ist es für ihn gefährlich, durch die gegend zu laufen. aber er erklärt sich bereit, marie zu helfen und rennt so schnell er kann nach westen, tiefer in den wald hinein, um jos zu finden. allerdings begegnet ihm auf halber strecke der jäger anthon richter, der schon lange nach ihm sucht. der jäger nimmt den silbernen knopf vom waldboden, den marie vor einer woche dort verloren hatte, steckt ihn in seine flinte und erschießt den wolf, noch bevor dieser jos finden konnte.
am zweiten abend im wald kommt eine ratte zu maries hütte und setzt sich neben ihr bett aus moos. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt sie und das mädchen wacht auf. marie streichelt die ratte, die eloquent und sehr vornehm ist. „weißt du, ratte, mir geht es eigentlich ganz gut hier. allerdings frage ich mich, was aus meinem freund jos geworden ist. gestern habe ich den wolf nach ihm geschickt und er sollte längst hier sein. kannst du nach ihnen suchen und die beiden herbringen?“ die ratte erzählt marie, dass die menschen sich vor ratten ekeln und dass es für sie deshalb gefährlich ist, durch die gegend zu laufen. aber sie erklärt sich bereit, marie zu helfen und rennt so schnell sie kann nach norden zum kloster onzer lieven frouwe op den velde, um jos zu finden. allerdings schleppt sie in ihrem fell einen floh ein, der die nonnen mit der pest ansteckt. innerhalb weniger tage siechen die frauen des klosters dahin und mit ihnen die ratte, noch bevor diese jos finden konnte.
am dritten abend im wald kommt eine möwe zu maries hütte und setzt sich neben ihr bett aus moos. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt sie und das mädchen wacht auf. marie streichelt die möwe, die weiche federn hat und sehr gebildet ist. „weißt du, möwe, mir geht es eigentlich ganz gut hier. allerdings frage ich mich, was aus meinem freund jos geworden ist. vorgestern habe ich den wolf und gestern die ratte nach ihm geschickt und er sollte längst hier sein. kannst du nach ihnen suchen und die drei herbringen?“ die möwe erzählt marie, dass die menschen die natur verschmutzen und dass es für sie deshalb gefährlich ist, durch die gegend zu fliegen. aber sie erklärt sich bereit, marie zu helfen und fliegt so schnell sie kann nach osten in das dorf scrothinge, um jos zu finden. allerdings fliegt sie etwas zu weit und wirbelt mit ihrem heftigen flügelschlag das wasser der nordsee auf. das meerwasser zerstört die deiche und überschwemmt das gesamte land an der küste. innerhalb einer nacht ertrinken alle bewohner von scrothinge und mit ihnen die möwe, noch bevor diese jos finden konnte.
schließlich gebärt marie ihr kind am nächsten morgen allein im wald. sie tauft es in dem waldsee, der von da an heilig ist und den man fortan nur noch engelsmeer nennt. am selben abend kommt ein rotes ross zu maries hütte und setzt sich neben die krippe aus moos, die marie für das neugeborene gebaut hat. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt es das mädchen, während es am bettchen des kindes sitzt. marie streichelt das rote ross, das stark und sehr schnell ist. „weißt du, rotes ross, mir geht es nicht gut hier. vor drei tagen habe ich den wolf, vorgestern die ratte und gestern die möwe losgeschickt, um nach meinem freund jos zu suchen. ich glaube, sie sind inzwischen alle tot und mit ihnen die bauern aus scrothinge und die jungfern auf dem felde. ich bin so traurig. kannst du mich und mein kind hier wegbringen?“ das rote ross erzählt marie, dass es ein bekanntes wunderpferd ist und deshalb ist es gefährlich, durch die gegend zu galoppieren. aber es erklärt sich bereit, marie zu helfen, nimmt mutter und kind auf seinen rücken und reitet so schnell es kann mit beiden nach süden, um jos zu finden.
sie kommen bei einbruch der dunkelheit in einem dorf an, in dem sie rast machen. der stern, der schon im wald von scrothinge über ihnen stand, leuchtet nun noch heller. eine chronistin bemerkt das sonderbare mädchen und ihr kind auf dem roten ross und gibt dem bisher namenslosen dorf den namen radestad, weil die junge familie auf geradem wege hierher gekommen war. marie geht auf die frau zu, denn sie ist der einzige mensch weit und breit. „entschuldigen sie, ich suche meinen freund jos. er ist ziemlich groß, trägt einen vollbart und kommt von weit her. haben sie ihn gesehen?“ die chronistin erinnert sich tatsächlich, dass einer ihrer kollegen einen solchen mann in aldenburg gesehen haben will. vor lauter glück gibt marie der frau einen zarten kuss auf die wange.
mit ihrem neugeborenen reitet marie auf dem roten ross in der frühe des nächsten morgens weiter richtung aldenburg. es ist kein weiter weg und weil das rote ross ein wunderpferd ist, legen sie die strecke in wenigen stunden zurück. am bahnhof schließlich sieht sie ihren jos und rennt ihm entgegen. er war gerade mit dem intercity aus berlyn eingetroffen. ihr steigen tränen in die augen und sie muss immer wieder hysterisch schluchzen, als sie ihre geschichte probiert zu erzählen. „weißt du, jos, es war... total krass. scrothinge, so hieß das kaff, war... einfach nur heftig. die leute... mega fies, aber die tiere. die waren schwer in ordnung. und überhaupt...“
jos nimmt marie und sein kind in den arm und streichelt ihnen über den rücken. „jesses, maria, wollen wir dem kind nicht endlich mal einen namen geben?“
eines schönen sommertages kommt ein mädchen von südosten über den staubigen weg entlang des oestringer feldes gelaufen und betritt das bauerndorf scrotinghe am späten nachmittag, als die sonne schon tief steht.
sie heißt marie und ist recht schön, wenn auch auf eine eigentümliche weise. ihr weißblondes haar ist auf höhe der ohrläppchen gerade abgeschnitten, sodass man ihren hals und ihren nacken vollständig sehen kann. auch über der stirn fällt das haar nur bis zu einer geraden linie auf höhe der augenbrauen. statt eines langen kleides trägt sie grell blaue männerhosen und einen dünnes, langärmeliges leibchen ohne knöpfe, das ihr viel zu weit ist. über ihrer linken schulter hängt ein beutel, der scheinbar aus flachs oder jute gewebt ist. ihre lippen sind mit roter farbe bemalt und ihre haut ist hell wie japanisches porzellan.
auf die bewohner des dorfes wirkt marie höchst grotesk und so ist es nicht verwunderlich, dass, noch bevor sie den ersten hof betreten hat, schon wilde geschichten unter den frauen des dorfes die runde machen.
das mädchen sei eine böse moorhexe aus ostfriesland, erzählt die dicke bäuerin diertje-möh mit verschwörerisch irrem blick. ihr mann, der bauer lümme oncken, war im winter zuvor überraschend verstorben und seitdem darf die witwe zwar die größten ländereien, aber auch den größten knall in ganz scrotinghe ihr eigen nennen. wenn sie mit dem rücken zu ihr stünden, so diertje-möh, könne marie jede von ihnen in eine abscheuliche kröte verwandeln.
merta, die sich als magd auf dem hof des bauern poppe oetken verdingt, meint gehört zu haben, dass das seltsame mädchen eine wohlhabene prinzessin aus dem baltikum sei. „an ihren ohren hängt gold und bernstein, selbst um ihre hüfte trägt sie einen riemen mit einer schnalle aus silber!“ das ist wahrlich ein opulenter luxus, da sind sich die bauersfrauen einig. stine rinsthusen hat erst vor kurzem über den ältesten rinsthusen-sohn nach scrotinghe eingeheiratet hat und entstammt eigentlich der durch fischfang zu großem reichtum gelangten familie von seediek. bei den anderen geestbewohnerinnen gilt sie deshalb als expertin für alle launen und offenbarungen des meeres. stines vermutung, dass das fremde mädchen ein verwunschenes seewiefken ist, findet daher durchaus einige anhängerinnen. „schaut doch, wie traurig sie aussieht. als man es verwandelt hat, ist aus ihrem fischschwanz eine klobige männerhose geworden – schließlich geht auch beim zaubern mal was schief! und nun muss das arme ding durch die gegend ziehen wie ein armer landstreicher.“ die anderen frauen schauen aus der ferne herüber zu marie, die inzwischen auf dem hof von poppe oetken steht. etwas grünlich schimmert maries haut tatsächlich, wenn sie genau hinschauen, vor allem ihre augenlider. an der geschichte von dem verzauberten seewiefken könnte etwas dran sein. außerdem hat edda eilks heute früh ein paar eerdmanntjes über ihr rübenfeld laufen sehen und die haben ja bekanntlich ein gespür für verzauberte seewiefkes. und sowieso möchte keine der frauen eine böse hexe hier im dorf haben, die sie alle in hässliche kröten verwandeln würde, sobald sie ihr den rücken zukehren.
während diertje-möh, stine und edda weiter über das seltsame mädchen rätseln, geht merta zu dem bauernhaus ihres herren, vor dem nun auch marie steht. „hey, meinst du, ich könnt’ne nacht bei euch pennen?“, ruft marie der schüchternen magd entgegen, noch bevor diese auf dem hof angekommen ist. „ich verstehe nicht ganz“, antwortet merta leise. es musste sich doch um eine baltische prinzessin handeln, sie spricht eindeutig eine exotische sprache. merta senkt den kopf und wird plötzlich rot. sie hat ja keine ahnung, wie man sich prinzessinnen gegenüber verhalten soll. zudem hat sie keinen knicks gemacht und das hätte sie laut etikette bestimmt tun müssen. sie knickst nun schnell vor marie nieder, mit besonders tief geneigtem kopf, in der hoffnung, den faux-pas ihrer unkenntnis damit ungeschehen machen zu können. „gnädige höhe, eure frauheit“, stammelt sie hilflos, „der herr ist zurzeit nicht zugegen. er ist untröstlich, sie nicht persönlich empfangen zu können.“ marie bricht in prustendes lachen aus. „hey, hey, hey, liebchen. mach dich mal locker“, probiert sie die etwa gleichaltrige merta zu beruhigen und legt ihr vertrauensvoll eine hand auf die schulter. „ist doch halb so wild. ich latsche einfach noch’ne runde um den pudding. ich habe halt bloß echt beschissenen empfang und mein akku ist auch bald leer.“
marie holt eine sonderbare kleine maschine aus ihrer hosentasche, die aus perlmutt oder elfenbein zu bestehen scheint. auf einer seite ist kunstvoll ein halber apfel in die oberfläche geschnitzt. an der apfelmaschine knüpft sie ein weiteres gerät fest, das sie aus ihrer tasche fischt. merta, die inzwischen wieder aufrecht steht, schaut erschrocken auf die fremdartigen gegenstände. das gerät an dem bindfaden setzt sich marie schließlich auf die ohren wie eine kopfpresse. das muss ihre krone sein, denkt sich merta, die sieht aber wirklich sehr baltisch aus. dann berührt die vermeintliche prinzessin das kleine maschinchen und aus der kopfpresse kommen geräusche. ganz wundersame, furchterregende geräusche.
„die stimmen aus helheim!“, ruft merta und stößt einen kleinen schrei aus, den auch die anderen dorfbewohner hören. nun verliert auch marie zunehmend die fassung. „ähm. das ist nicht helheim. das ist ‚remmidemmi’ von deichkind“, sagt sie verunsichert und hält merta ihre kopfhörer hin. die tonkulisse, die merta nicht einordnen kann, wird immer lauter. wirre stimmen und bizarre geräusche, die scheinbar aus dem nichts kommen. „du stehst wohl einfach nicht so auf electro?“, probiert marie die offensichtlich verängstigte merta zu beruhigen. ohne zu antworten rennt merta zum eingang des bauernhauses und verriegelt die massive tür von innen. das ist gar keine prinzessin, sondern eine böse hexe, da ist sich merta nun sicher. und als kurze zeit später auch die anderen frauen des dorfes die neuigkeit erfahren haben, jagen sie marie mit steinen und erhobenen mistgabeln aus dem dorf. während diertje-möh an der spitze der gruppe patroulliert und mit lauten „hexe“-rufen das gesamte dorf zu mobilisieren probiert, kauern sich merta, stine und edda ängstlich im windschatten der dicken bauerswitwe. später erzählt diertje-möh den nachbarinnen, die nicht dabei gewesen waren, dass marie, als man sie bis zum horizont getrieben habe, sogar auf einen besen gestiegen und in richtung ostfriesland davongeflogen sei. all das hatten die scrotingher frauen geregelt, noch bevor ihre männer vom markt in givers zurück waren.
noch vor einbruch der dunkelheit gelangt marie in einen dichten wald, in dessen mitte sie einen seltsam schimmernden see findet, an dem sie sich ausruht. während die baumkronen in dem leuchtenden orange der untergehenden sonne baden, ist es hier im unterholz schummrig violett. auf dem waldboden wachsen bunte pilze, marie pflückt sich einen rosafarbenen, von dem sie nicht weiß, ob er giftig ist oder nicht. sie legt ihre tasche auf den boden, der trotz der sommerhitze feucht und modrig ist, und lockert die schnürsenkel ihrer chucks. ihre füße sind geschwollen und an den fersen hat sie blasen. sie beugt sich zu dem ufer des schimmernden sees hinunter und trinkt von dem klaren wasser. es schmeckt nicht schlecht, ein bisschen nach moos und nadelholz, etwas süßlich vielleicht sogar. marie muss an die tannenwaldlimonade denken, die sie in berlyn-golgota so gerne getrunken hat. ein seltsamer ort, dieses scrothinge.
als marie gerade am ufer des waldsees sitzt, fällt ihr plötzlich ein birkhuhn auf, das es sich neben ihr bequem gemacht hat. „hi! ich bin marie“, sagt sie und nickt ihm freundlich zu. das birkhuhn nickt auch. „marie, du siehst sehr müde aus. folge den hellen kieselsteinen, sobald der mond scheint. ich habe sie dir auf den waldboden gelegt. sie führen dich zu einer lichtung, auf der ein riesiges kloster aus stein steht. klopfe dort dreimal an der tür und bitte um obdach.“ während marie probiert, sich auf die worte des birkhuhns zu konzentrieren, merkt sie, wie erschöpft sie tatsächlich ist. „danke, birkhuhn. das ist echt ein spitzen tipp und wirklich irre nett von dir.“ sie wollte das birkhuhn noch fragen, ob es in dem kloster wohl auch wlan gäbe, aber da ist es schon weggeflogen und eigentlich ist es ja auch gar nicht so wichtig.
als es dunkel ist, tut marie, wie der vogel ihr sagte und steht kurze zeit später vor einem gewaltigen gebäude aus großen granitsteinen. sie klopft mehrmals an die massive tür aus metall, in deren türbogen eine ebenfalls metallene tafel in das gemäuer eingelassen ist: onser lieven frouwe op den velde. es dauert einige momente, bis marie die tür geöffnet wird. schließlich steht sie einer älteren frau im knöchellangen nachthemd gegenüber, die einen kerzenhalter mit griff in der linken hand hält. „oh, ich wollte sie nicht wecken!“, entschuldigt sich marie enthusiastisch. sie ist aufrichtig überrascht, die frau im nachthemd anzutreffen, denn nicht nur findet sie nachthemden selbst für alte leute unglaublich altmodisch, sie hat zudem auch nicht ahnen können, dass schon um zehn uhr alle zu bett gegangen sind, denn später könnte es, dem sonnenuntergang nach zu urteilen, kaum sein. „es ist nur so: ich suche einen platz zum schlafen und man hat mir von diesem kloster erzählt.“ die frau im nachthemd ist beate juchter, priorin des klosters, und ihr sind schon die geschichten aus dem dorf zu ohren gekommen. in ihr grundsätzliches misstrauen gegenüber den wenig sittlichen friesen mischt sich nun noch ihre müdigkeit. „hören sie mal, es ist mitten in der nacht. und außerdem ist das hier ein kloster und keine herberge. wir können ihnen kein bett anbieten, ihre anwesenheit würde die ruhe und ordnung unseres ordens nur durcheinanderbringen.“ marie merkt, dass das gespräch eine ähnlich abstruse wendung nehmen könnte wie das vorhin mit der magd merta. sie probiert leiser zu sprechen und ihre worte bedachter zu wählen. „mein name ist marie, meine freunde nennen mich aber mariechen. ich komme von weit her und kenne mich hier nicht gut aus. allerdings bin ich im achten monat schwanger und hätte gern ein bett zum schlafen.“ die nonne schaut an dem mädchen hinunter. unter dem langärmeligen, völlig unförmigen leibchen könnte sich tatsächlich der bauch einer schwangeren frau verstecken. zudem war dieses seltsame kleidungsstück ihrer eigenen ordenstracht nicht so unähnlich: schnüre und knöpfe, wie sie die heidnischen bäuerinnen trugen, sah sie immerhin keine. es glich mehr einem gewand, nur eben sehr kurz. vielleicht taten die frauen aus dem dorf ihr unrecht. was wussten diese einfältigen weiber schon von moral und tugend? während beate juchter überlegt, ob sie dem mädchen obdach bieten solle, erscheint neben ihr schwester hille, eine junge nonne in komplettem ordensgewand in der tür. „mutter oberin, ist etwas passiert, dass sie so spät noch wach sind? ich habe mir sorgen gemacht.“ die priorin dreht sich zu schwester hille um. „nein, schwester hille, seien sie unbesorgt. begrüßen sie lieber mit mir schwester marieken, die gerade darum gebeten hat, unserem konvent beitreten zu dürfen. begleiten sie sie in ihre zelle.“
das schwarze ordensgewand steht marie ausgezeichnet. oversized ist eh total ihr stil, sagt sie sich. außerdem ist der hochschwangeren marie der silberne knopf ihrer jeans abgesprungen, als sie im wald unterwegs war, sodass sie die unbequeme und viel zu enge hose bereitwillig gegen das luftige gewand der nonnen eintauscht.
kost und logie sind umsonst und das bisschen beten wird sie auf einer arschbacke absitzen, wie man so schön sagt. außerdem, jede mitgliedschaft lässt sich aufkündigen. marie bekommt eine ärmlich eingerichtete zelle im turm des klosters. aus ihrem fenster kann sie nicht nur den angrenzenden wald, sondern auch das ganze dorf scrotinghe überblicken. am nächsten morgen meint sie sogar in der ferne diertje-möh zu erkennen, während die in der sommerhitze ihr land bewässert.
die tage im kloster vergehen überraschend schnell. marie hilft tagsüber den anderen schwestern im garten des klosters, bewässert das gemüse, beschneidet obstbäume oder pflückt sich hin und wieder wilde beeren außerhalb der klostermauern, wenn die mahlzeit im refektorium mal wieder etwas zu karg ausgefallen ist. nur, dass sie weit und breit keine steckdose findet, beunruhigt marie, denn sie würde zu gern wissen, ob ihr freund jos endlich ein zugticket nach scrothinge gelöst hat.
nach einer woche, die marie nun in dem kloster lebt, bittet die priorin sie zum gespräch. „schwester marieken, es ist bisher unser kleines geheimnis gewesen, aber nun möchte ich sie doch eines fragen. sollen wir nicht langsam nach ihrem ehemann schicken, damit er das kind nach ihrer niederkunft holt?“ marie ist entsetzt. wieso sollte irgendwer kommen und ihr kind holen? „ja, naja. also darüber wollte ich eh noch mit ihnen reden, schwester. jos und ich, wir kennen uns noch nicht so wahnsinnig lang. genaugenommen war es eher so ein one-night-stand unter freunden. wissen sie, wir waren feiern, haben wohl einen gin tonic zuviel getrunken, und naja, knick-knack, sie wissen schon. ich habe ihm eine sms geschrieben, aber nun ist mein akku leer und ich weiß gar nicht, ob jos überhaupt weiß, dass er vater wird. gibt es hier irgendwo vielleicht eine steckdose?“
die priorin wird bleich im gesicht und weiß nicht, ob sie glauben soll, was das mädchen ihr da erzählt. dass sie ihre jungfräulichkeit verloren hat, ist schlimm genug. allerdings ist sie davon ausgegangen, dass dem mädchen in der ehe gewalt angetan wurde und es sich deshalb in ein kloster flüchten wollte. als moderne und barmherzige frau hatte beate juchter es damals als ihre pflicht empfunden, dem jungen, misshandelten ding ein obdach zu bieten. aber ein bastard in den heiligen gemäuern dieses klosters, das ist eindeutig zu viel. dazu noch alkohol und zügellose feste, sie hat wohl die leibhaftige hure babylon in ihr kloster eingeladen.
sie verweist marie noch am selben tag des klosters und erlaubt nicht mal, dass schwester hille und schwester dieka die junge frau zum hauptportal begleiten. „möge diese gottlose sünderin doch im wald von den tieren gefressen werden!“, ruft sie marie hinterher, als diese das kloster gerade über den kreuzgang verlassen wollte. und während marie wieder draußen auf dem felde steht, bekreuzigt sich drinnen die priorin beater juchter und hofft, dass keine der schwestern ihren wutausbruch mitbekommen hatte.
es ist noch immer warm in den wäldern bei scrotinghe und marie beschließt, von nun an hier zu wohnen. in der woche im kloster hat sie gelernt, welche kräuter und beeren giftig und welche essbar sind, dass man aus den früchten des sanddorns einen wunderbaren saft pressen kann und wie man sich eine bequeme schlafstätte aus moos baut. außerdem leuchtet seit kurzem nachts ein heller stern am himmel, der die ganze umgebung erhellt. marie hat das gefühl, dass er senkrecht über ihrem kopf steht und freut sich über das geheimnisvolle glitzern, das nun wie staub über dem ganzen wald liegt. sie baut sich eine kleine hütte an dem waldsee, an dem sie vor kurzem das birkhuhn getroffen hat, denn dort glänzt und glitzert es am schönsten. außerdem kann sie tagsüber von dem wasser trinken oder darin baden.
am ersten abend im wald kommt ein wolf zu maries hütte und setzt sich neben ihr bett aus moos. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt er und das mädchen wacht auf. marie streichelt den wolf, der zahm und sehr liebenswürdig ist. „weißt du, wolf, mir geht es eigentlich ganz gut hier. allerdings frage ich mich, was aus meinem freund jos geworden ist. er sollte längst hier sein. kannst du nach ihm suchen und ihn herbringen?“ der wolf erzählt marie, dass er der letzte wolf weit und breit ist und die menschen hier in der umgebung als „hunnenhangers“ bekannt seien. deshalb ist es für ihn gefährlich, durch die gegend zu laufen. aber er erklärt sich bereit, marie zu helfen und rennt so schnell er kann nach westen, tiefer in den wald hinein, um jos zu finden. allerdings begegnet ihm auf halber strecke der jäger anthon richter, der schon lange nach ihm sucht. der jäger nimmt den silbernen knopf vom waldboden, den marie vor einer woche dort verloren hatte, steckt ihn in seine flinte und erschießt den wolf, noch bevor dieser jos finden konnte.
am zweiten abend im wald kommt eine ratte zu maries hütte und setzt sich neben ihr bett aus moos. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt sie und das mädchen wacht auf. marie streichelt die ratte, die eloquent und sehr vornehm ist. „weißt du, ratte, mir geht es eigentlich ganz gut hier. allerdings frage ich mich, was aus meinem freund jos geworden ist. gestern habe ich den wolf nach ihm geschickt und er sollte längst hier sein. kannst du nach ihnen suchen und die beiden herbringen?“ die ratte erzählt marie, dass die menschen sich vor ratten ekeln und dass es für sie deshalb gefährlich ist, durch die gegend zu laufen. aber sie erklärt sich bereit, marie zu helfen und rennt so schnell sie kann nach norden zum kloster onzer lieven frouwe op den velde, um jos zu finden. allerdings schleppt sie in ihrem fell einen floh ein, der die nonnen mit der pest ansteckt. innerhalb weniger tage siechen die frauen des klosters dahin und mit ihnen die ratte, noch bevor diese jos finden konnte.
am dritten abend im wald kommt eine möwe zu maries hütte und setzt sich neben ihr bett aus moos. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt sie und das mädchen wacht auf. marie streichelt die möwe, die weiche federn hat und sehr gebildet ist. „weißt du, möwe, mir geht es eigentlich ganz gut hier. allerdings frage ich mich, was aus meinem freund jos geworden ist. vorgestern habe ich den wolf und gestern die ratte nach ihm geschickt und er sollte längst hier sein. kannst du nach ihnen suchen und die drei herbringen?“ die möwe erzählt marie, dass die menschen die natur verschmutzen und dass es für sie deshalb gefährlich ist, durch die gegend zu fliegen. aber sie erklärt sich bereit, marie zu helfen und fliegt so schnell sie kann nach osten in das dorf scrothinge, um jos zu finden. allerdings fliegt sie etwas zu weit und wirbelt mit ihrem heftigen flügelschlag das wasser der nordsee auf. das meerwasser zerstört die deiche und überschwemmt das gesamte land an der küste. innerhalb einer nacht ertrinken alle bewohner von scrothinge und mit ihnen die möwe, noch bevor diese jos finden konnte.
schließlich gebärt marie ihr kind am nächsten morgen allein im wald. sie tauft es in dem waldsee, der von da an heilig ist und den man fortan nur noch engelsmeer nennt. am selben abend kommt ein rotes ross zu maries hütte und setzt sich neben die krippe aus moos, die marie für das neugeborene gebaut hat. „liebes marieken, ich bin dem stern gefolgt und habe ich dich gefunden. wie kann ich dir helfen?“, fragt es das mädchen, während es am bettchen des kindes sitzt. marie streichelt das rote ross, das stark und sehr schnell ist. „weißt du, rotes ross, mir geht es nicht gut hier. vor drei tagen habe ich den wolf, vorgestern die ratte und gestern die möwe losgeschickt, um nach meinem freund jos zu suchen. ich glaube, sie sind inzwischen alle tot und mit ihnen die bauern aus scrothinge und die jungfern auf dem felde. ich bin so traurig. kannst du mich und mein kind hier wegbringen?“ das rote ross erzählt marie, dass es ein bekanntes wunderpferd ist und deshalb ist es gefährlich, durch die gegend zu galoppieren. aber es erklärt sich bereit, marie zu helfen, nimmt mutter und kind auf seinen rücken und reitet so schnell es kann mit beiden nach süden, um jos zu finden.
sie kommen bei einbruch der dunkelheit in einem dorf an, in dem sie rast machen. der stern, der schon im wald von scrothinge über ihnen stand, leuchtet nun noch heller. eine chronistin bemerkt das sonderbare mädchen und ihr kind auf dem roten ross und gibt dem bisher namenslosen dorf den namen radestad, weil die junge familie auf geradem wege hierher gekommen war. marie geht auf die frau zu, denn sie ist der einzige mensch weit und breit. „entschuldigen sie, ich suche meinen freund jos. er ist ziemlich groß, trägt einen vollbart und kommt von weit her. haben sie ihn gesehen?“ die chronistin erinnert sich tatsächlich, dass einer ihrer kollegen einen solchen mann in aldenburg gesehen haben will. vor lauter glück gibt marie der frau einen zarten kuss auf die wange.
mit ihrem neugeborenen reitet marie auf dem roten ross in der frühe des nächsten morgens weiter richtung aldenburg. es ist kein weiter weg und weil das rote ross ein wunderpferd ist, legen sie die strecke in wenigen stunden zurück. am bahnhof schließlich sieht sie ihren jos und rennt ihm entgegen. er war gerade mit dem intercity aus berlyn eingetroffen. ihr steigen tränen in die augen und sie muss immer wieder hysterisch schluchzen, als sie ihre geschichte probiert zu erzählen. „weißt du, jos, es war... total krass. scrothinge, so hieß das kaff, war... einfach nur heftig. die leute... mega fies, aber die tiere. die waren schwer in ordnung. und überhaupt...“
jos nimmt marie und sein kind in den arm und streichelt ihnen über den rücken. „jesses, maria, wollen wir dem kind nicht endlich mal einen namen geben?“