heidmühle, den 22. september 1945
meine teure helene,
ich konnte meinen augen kaum trauen, als ich dich heute auf der oldenburger straße sah. am liebsten hätte ich dich angesprochen, mein lenchen, wäre dir um den hals gefallen. du warst es, das habe ich sofort erkannt. aber du sahst so traurig aus, mit deinem abgegriffenen köfferchen und deinem schmutzigen rock. elf lange jahre habe ich dich nicht gesehen und doch habe ich so oft an dich gedacht. wie es dir wohl ergangen sein mag, habe ich mich gefragt. es ist so viel passiert in diesen unsäglichen elf jahren und mir bleibt nichts, als gott dafür zu danken, daß ich noch am leben bin. mein rechtes bein, einen bruder und meine heiterkeit haben mich die kriegsjahre gekostet und ich mag mir gar nicht ausmalen, was sie dir genommen haben. du sahst so verändert aus, ganz und gar nicht mehr das heitere, freche ding, das ich kenne. meine sonne, so habe ich dich genannt. ich war dein stern. oh, mein süßes lenchen, meine sonne, was habe ich mich nach dir gesehnt. ich habe an dich gedacht, als ich in den krieg gezogen bin. wusstest du, daß meine mutter mich an dem tag zur welt gebracht hat, an dem franz ferdinand von österreich erschossen wurde? es war ein sonntag und du weißt ja, was man über sonntagskinder sagt. ich bin also wirklich von geburt an vom glück geküßt und vom krieg geschunden. so viel krieg, mir ist fast, als wüßte ich gar nicht mehr, wie sich frieden anfühlt. in rußland habe ich nachts oft geweint, um mich, um meine familie, um dich. das letzte, was ich wußte, war, daß du vor dem krieg nach cloppenburg gegangen bist. schau nun, was für ein prächtiges glück es ist, daß ich dich heute wiedersehen durfte!
erinnerst du dich noch an den sommer 1934, an den tag, als du mit deinen eltern und geschwistern heidmühle verlassen hast? ihr habt die bahn genommen, ich hatte dir am abend zuvor versprochen, daß wir uns noch einmal sehen. ich wollte dir lebewohl sagen. mein vater aber wurde wütend und schrie, ich soll mich ja nicht „bi de olle jöden“ blicken lassen. ich hörte ja schon lang nicht mehr auf den alten kauz und schaffte es irgendwie, mich mittags heimlich aus dem haus zu schleichen. so schnell wie ich nur irgend konnte, bin ich zum bahnhof gelaufen. du warst höchstens siebzehn, mein liebes lenchen. so ein richtiger backfisch noch, mit deinem schönen köpfchen. es kommt mir vor, als sei es jahrhunderte her und doch erinnere ich mich noch genau. aus der entfernung habe ich noch gesehen, wie du und dein bruder artur in den waggon gestiegen seid. was ist aus artur geworden? im dorf erzählt man sich, er hätte sich nach amsterdam geflüchtet. ich hoffe sehr, daß es stimmt. du hast mich an diesem mittag wahrscheinlich nicht mehr gesehen, liebes lenchen. ich war zu spät. wie leid es mir tut. sicher dachtest du die ganze zeit, ich habe dich vergessen.
jedes mal, wenn ich an dem bahnhofsgebäude vorbei ging, kam die erinnerung an meine süße helene zurück. auch als ich jahre später selbst die bahn nahm, um an die front zu fahren, dachte ich an dich. ich wollte längst mit dir vermählt sein, helene. stattdessen kannten wir uns nicht einmal mehr. mir war, als hätte das bahnhofshaus uns getrennt. dafür haßte ich diesen bahnhof regelrecht, seine kühlen gleise und die häßliche, strenge schlichtheit der kreideweißen wände. ich haßte die andere welt, in die er dich gebracht hat und meine welt, aus der er dich gerissen hat. ich haßte ihn dafür, daß es keine welt mehr gab, in der wir beide glücklich sein konnten.
es schmerzt mich, an unsere schönen tage zu denken. so als sei es unverschämt, daß es uns auch mal gut ging und an nichts fehlte. manchmal weiß ich gar nicht recht, ob es diese schöne, flimmerrote zeit je wirklich so gab. roch das nordseewasser nicht damals schon faulig nach krieg, als wir fröhlich darin schwammen? war der sand in schillig nicht schon durchtränkt von blut, als wir uns im strandkorb jugendliche küsse gaben? schmeckten die wilden beeren, die wir zusammen pflückten, nicht bitter wie blei? knurrten nicht schon die bomber bedrohlich am himmel, während wir händchenhaltend durch den wald spazierten? dabei fällt mir das weiße kleid mit den blauen streifen ein, das dir so gut stand. du hast es an dem tag im wald getragen. wie eine schauspielerin sahst du aus, so blass, elegant und vornehm. die leute haben sich nach dir umgedreht und sich gefragt, ob es vielleicht greta garbo ist, die da durch das dorf läuft.
ich konnte es auch kaum fassen, als du mir auf der oldenburger straße begegnet bist: das ist doch meine schöne lene, die dort ihr köfferchen schleppt! liebe helene, vielleicht können wir uns bald wiedersehen? ich wünsche es mir so sehr. schau in dein herz und sag mir, ob du die kraft dazu hast. kraft, dich zu erinnern. kraft, zu vergessen.
ich erwarte deine antwort.
ich konnte meinen augen kaum trauen, als ich dich heute auf der oldenburger straße sah. am liebsten hätte ich dich angesprochen, mein lenchen, wäre dir um den hals gefallen. du warst es, das habe ich sofort erkannt. aber du sahst so traurig aus, mit deinem abgegriffenen köfferchen und deinem schmutzigen rock. elf lange jahre habe ich dich nicht gesehen und doch habe ich so oft an dich gedacht. wie es dir wohl ergangen sein mag, habe ich mich gefragt. es ist so viel passiert in diesen unsäglichen elf jahren und mir bleibt nichts, als gott dafür zu danken, daß ich noch am leben bin. mein rechtes bein, einen bruder und meine heiterkeit haben mich die kriegsjahre gekostet und ich mag mir gar nicht ausmalen, was sie dir genommen haben. du sahst so verändert aus, ganz und gar nicht mehr das heitere, freche ding, das ich kenne. meine sonne, so habe ich dich genannt. ich war dein stern. oh, mein süßes lenchen, meine sonne, was habe ich mich nach dir gesehnt. ich habe an dich gedacht, als ich in den krieg gezogen bin. wusstest du, daß meine mutter mich an dem tag zur welt gebracht hat, an dem franz ferdinand von österreich erschossen wurde? es war ein sonntag und du weißt ja, was man über sonntagskinder sagt. ich bin also wirklich von geburt an vom glück geküßt und vom krieg geschunden. so viel krieg, mir ist fast, als wüßte ich gar nicht mehr, wie sich frieden anfühlt. in rußland habe ich nachts oft geweint, um mich, um meine familie, um dich. das letzte, was ich wußte, war, daß du vor dem krieg nach cloppenburg gegangen bist. schau nun, was für ein prächtiges glück es ist, daß ich dich heute wiedersehen durfte!
erinnerst du dich noch an den sommer 1934, an den tag, als du mit deinen eltern und geschwistern heidmühle verlassen hast? ihr habt die bahn genommen, ich hatte dir am abend zuvor versprochen, daß wir uns noch einmal sehen. ich wollte dir lebewohl sagen. mein vater aber wurde wütend und schrie, ich soll mich ja nicht „bi de olle jöden“ blicken lassen. ich hörte ja schon lang nicht mehr auf den alten kauz und schaffte es irgendwie, mich mittags heimlich aus dem haus zu schleichen. so schnell wie ich nur irgend konnte, bin ich zum bahnhof gelaufen. du warst höchstens siebzehn, mein liebes lenchen. so ein richtiger backfisch noch, mit deinem schönen köpfchen. es kommt mir vor, als sei es jahrhunderte her und doch erinnere ich mich noch genau. aus der entfernung habe ich noch gesehen, wie du und dein bruder artur in den waggon gestiegen seid. was ist aus artur geworden? im dorf erzählt man sich, er hätte sich nach amsterdam geflüchtet. ich hoffe sehr, daß es stimmt. du hast mich an diesem mittag wahrscheinlich nicht mehr gesehen, liebes lenchen. ich war zu spät. wie leid es mir tut. sicher dachtest du die ganze zeit, ich habe dich vergessen.
jedes mal, wenn ich an dem bahnhofsgebäude vorbei ging, kam die erinnerung an meine süße helene zurück. auch als ich jahre später selbst die bahn nahm, um an die front zu fahren, dachte ich an dich. ich wollte längst mit dir vermählt sein, helene. stattdessen kannten wir uns nicht einmal mehr. mir war, als hätte das bahnhofshaus uns getrennt. dafür haßte ich diesen bahnhof regelrecht, seine kühlen gleise und die häßliche, strenge schlichtheit der kreideweißen wände. ich haßte die andere welt, in die er dich gebracht hat und meine welt, aus der er dich gerissen hat. ich haßte ihn dafür, daß es keine welt mehr gab, in der wir beide glücklich sein konnten.
es schmerzt mich, an unsere schönen tage zu denken. so als sei es unverschämt, daß es uns auch mal gut ging und an nichts fehlte. manchmal weiß ich gar nicht recht, ob es diese schöne, flimmerrote zeit je wirklich so gab. roch das nordseewasser nicht damals schon faulig nach krieg, als wir fröhlich darin schwammen? war der sand in schillig nicht schon durchtränkt von blut, als wir uns im strandkorb jugendliche küsse gaben? schmeckten die wilden beeren, die wir zusammen pflückten, nicht bitter wie blei? knurrten nicht schon die bomber bedrohlich am himmel, während wir händchenhaltend durch den wald spazierten? dabei fällt mir das weiße kleid mit den blauen streifen ein, das dir so gut stand. du hast es an dem tag im wald getragen. wie eine schauspielerin sahst du aus, so blass, elegant und vornehm. die leute haben sich nach dir umgedreht und sich gefragt, ob es vielleicht greta garbo ist, die da durch das dorf läuft.
ich konnte es auch kaum fassen, als du mir auf der oldenburger straße begegnet bist: das ist doch meine schöne lene, die dort ihr köfferchen schleppt! liebe helene, vielleicht können wir uns bald wiedersehen? ich wünsche es mir so sehr. schau in dein herz und sag mir, ob du die kraft dazu hast. kraft, dich zu erinnern. kraft, zu vergessen.
ich erwarte deine antwort.